Tube non grata

variablen µ

Derartige Röhren wurden nicht erfunden, um den Bastler zu ärgern. Sie sollten in der Radiotechnik, je nach Stärke des Eingangssignal, die Verstärkung selbst nachregeln. Und genau diese Art der Formulierung zog allerlei Missverständnisse nach sich.

Viele Bastler meinen nämlich, dass Verstärker mit diesen Röhren nicht »stabil« arbeiten und sich »variabel« in der Lautstärke zeigen. Dem ist natürlich nicht so – es sei denn, man will es so…

Achtung

Eigentlich ist der Begriff variabler Verstärkungsfaktor bzw. »variables µ« nicht richtig. Da »µ« sich aber aus S und Ri ergibt und Ri »fest« ist , handelt es sich eigentlich um eine variable Steilheit bzw. um ein »variables S«. Eigentlich. Das mit dem »variablen µ« hat sich aber eingebürgert.

Zuerst war diese Technik nur für Hochfrequenz (HF, engl. RF) angedacht. Dann kam die Zwischenfrequenz (ZF, engl. IF) hinzu und dann entdeckte man die Sache für Niederfrequenz (NF, engl. AF).

Letzteres spielt allerdings nur für Tontechniker eine Rolle, zB. Geräte in Form von Limiter oder als Compressor. In der Consumer-Technik wurde aus dem Limiter die »automatische Aufnahmeaussteuerung«.

limiter

Zu »Tube non grata« kam es vielleicht, weil man die Sache mit dem variablen Verstärkungsfaktor (auch das ist ein Leerlauf-Verstärkungsfaktor) nicht ganz verstanden hatte. Auf der Suche nach einer sinnigen Erklärung habe ich die tollsten Stilblüten gefunden. Ein namhafter Bauteillieferant versuchte es kurz & knapp folgendermaßen:

Eine [bestimmte] Elektronenröhre, die es erlaubt, den Verstärkungsfaktor in einer vorbestimmten Weise mit der Steuerspannung zu variieren.

Klar?

Abgesehen davon, dass es auch Halbleiter gibt, die das »variable µ« nachbilden, ist diese Aussage im Kern richtig. Da braucht man nicht Haare zu spalten, ob der Verstärkungsfaktor in »µ« oder »D« angegeben werden soll und was ich sonst noch so alles lesen durfte. Nur, was heisst bitteschön »in einer vorbestimmten Weise«?

Also, man benötigt für die »vorbestimmte Weise« eine Röhre mit einer ganz merkwürdigen Anordnung des Steuergitters. Ein Bild sagt mehr wie tausend Worte…

varimu

Konstruktionstechnisch löste man das also so (Ich zitiere Onkel Ratheiser):

Um die erforderliche stetige Änderung der [Kennlinien]-Steilheit zu erreichen, ist der mittlere Teil der Steuergitterspirale etwas auseinander gezogen…

Oben im Bild das System mit »festem µ« (Sharp Cutoff) mit gleichmäßigem Gitter, unten »Tube non grata« (Remote Cutoff).

Erst dieser Aufbau ermöglicht es der Röhre, ihren Arbeitspunkt schaltungsabhängig quasi selber zu bestimmen. Die üblichen Kenndaten gibt es so nicht mehr und ist vielleicht auch ein Grund, warum es zu »Tube non grata« kam.

Im deutschen spricht man übrigens von einer Regelröhre, was genauso »ungenau« ist, wie der Begriff »Phasenumkehr«. Man kann jede Röhre (ausser Dioden) zu einer Regelröhre »umfunktionieren«.

Mit anderen Worten und stark vereinfacht: Man »manipuliert« eigentlich nur den Arbeitspunkt einer Röhre. Namentlich mit dem Gitterwiderstand (nicht den Grid-Stopper), der ja für einen bestimmten Arbeitspunkt (mit) verantwortlich ist.

Zur Funktionsweise zitiere ich den Ratheiser weiter:

…Mit zunehmender Gittervorspannung sperrt dadurch zunächst der äussere Teil des Gitters den Anodenstrom. Erst bei höheren Vorspannungen beginnt auch der mittlere, weitmaschige Teil des Gitters den Anodenstrom zu drosseln.

Besser und einfacher geht es nicht mehr.

Die Sache mit dem Arbeitspunkt steht als Synonym für…?
Na?
Also, bitte…

Ruhestrom, natürlich. Oder BIAS, den alle Röhren (ausser Dioden) benötigen.

NF-Verstärker die das Eingangssignal über einen Lautstärkeregler – ohne Umweg über einen Kondensator – direkt an das Steuergitter beispielsweise einer ECC83 legen, ahmen das Prinzip des »variablen Verstärkungsfaktor« nach. Bis zu einer gewissen Grenze. Und dann ist Schluss. Cut.

hafler_kereos
Dass in dieser Zeichnung kein Lautstärkeregler eingezeichnet worden ist, sollte nicht stören. Wenn doch, male ich gerne einen hin.

Mit dem Lautstärkeregler regelt man also weniger die Lautstärke, sondern man ändert den Arbeitspunkt (und damit den Ruhestrom) der ECC83. Nicht mehr. Drehe ich den Lautstärkeregler auf »leise«, würge ich die ECC83 einfach nur ab. Genauso wie einem Motor, bei dem man das Standgas zu niedrig eingestellt hat. Das ist eigentlich eine Holzhammermethode.

Holzhammer deswegen, weil man bei »normalen« Röhren den Ruhestrom schon sehr stark reduzieren muss, um die Verstärkung etwas zu verringern. Das gibt in anderen Bereichen Probleme, weil man dort mit »empfindlicheren« Signalen, meist auch noch frequenzabhängig, möglichst Verzerrungsfrei arbeitet.

Die »Tubes non grata« wurden erfunden, um mit wenig »Stromänderungen« eine deutliche Verstärkungsänderung – Verzerrungsarm – zu erreichen.

Damit das AGC (Automatic Gain Control, wie es in machen Datenblättern heisst) sofort wirksam wird, darf der Arbeitspunkt natürlich nicht »festgenagelt« werden, so wie es in der »normalen« HiFi-Verstärkertechnik üblich ist.

Statt eines Gitterwiderstandes werden Spulen und/oder Kondensatoren eingesetzt. Also eigentlich frequenzabhängig leitende Bauteile. Und das ist eben die »vorbestimmte Weise«.

Das war’s.
Eigentlich.

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen. Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

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