Hörerlebnis

Vergangenheit mit Zukunft

In diesem Heft finden Sie mehrere Aufsätze, die sich mit röhrenbestückten Produkten befassen. Nein, wir wollen das nicht modisch »Röhren-Special« nennen, sondern auf solche Weise auch ein wenig zur Rückbesinnung anregen. Als der amerikanische Physiker William Shokley (geb. am 13.2.1910 in London) im Jahre 1948 gemeinsam mit Bardeen und Brattain den Transistor erfand – wofür das Wissenschaftlertrio 1956 den Nobelpreis für Physik erhielt -, ahnte er wohl kaum, dass sein im Laboraufbau recht unförmiges Entwicklungsmuster später zu einer Revolution im gesamten Elektronikbereich führen würde.

Der Transistor wurde ständig kleiner und leistungsfähiger; integrierte Schaltungen ließen sich konstruieren, welche mit den Jahren zunehmende Miniaturisierung erfuhren und mittlerweile zu nachgerade unglaublich komplexen Leistungen fähig sind.

Solches wäre mit der Elektronenröhre nicht möglich gewesen; gerade im Bereich der Rechenanlagen wurde man schon frühzeitig mit dem »Problem der großen Zahl« konfrontiert – der Transistor und die integrierten Schaltungen dagegen ermöglichten mit zunehmender Leichtigkeit den jetzigen Standard. So verwundert es kaum, daß auch in der Audio-Elektronik, welche ab den frühen 60er Jahren vermehrten Zugang in die Wohnzimmer erhielt und einen gewaltigen Wachstumsmarkt darstellte, der Transistor zunächst zaghaft, dann vehement »das« verstärkende Element überhaupt wurde.

Die Produktion von röhrenbestückten Geräten geriet zunehmend ins Hintertreffen; im Laufe der 70er war die Röhre – von exotischen Ausnahmen abgesehen – praktisch vom Markt verschwunden. Was niemanden wundern darf: In jenen Jahren grassierte die Messtechnikgläubigkeit. Je mehr Stellen hinter dem Komma (z.B. beim Klirrfaktor), desto »besser« war das Gerät. Hier konnte die Röhre nicht mithalten. Dass ihr anders geartetes Verzerrungsspektrum hörphysiologische Vorzüge aufwies, die bei der Musikwiedergabe nicht zu unterschätzen sind, erkannte man erst, als es fast zu spät war, die Röhrenära ihrem scheinbar unwiderruflichen Ende zuneigte.

Doch Totgesagte leben länger, wie der Volksmund sarkastisch formuliert. Wir wissen heute alle, dass die Röhre nicht nur überlebte, sondern sich sogar ständig wachsender Beliebtheit erfreut, weil rührige Entwickler und eine zahlenmäßig steigende Interessenten- und Käufergemeinde die Renaissance der »Glaskolben« realisierten. Inwieweit da auch eine gewisse Verweigerungshaltung gegenüber den funktional häufig überfrachteteten High-Tech-Produkten mitspielt, mögen Psychologen entscheiden. Tatsache ist und bleibt: Röhren »haben was«, ihre Tätigkeit ist sichtbar, und klanglich gehören sie beileibe nicht zum alten Eisen – im Gegenteil. Ich ziehe zwar transistorisierte Geräte vor, was jedoch nichts mit Abneigung gegenüber Röhren zu tun hat, sondern – siehe oben – mit dem Problem der grossen Zahl. Zudem kann man die klanglichen Unterschiede zwischen Röhre und Transistor explizit in der Tonstudiotechnik als »gegessen« betrachten – das Ziel des linearen Klangbildes vorausgesetzt.

Raum für Röhre steht im Hörerlebnis jederzeit zur Verfügung. Einerseits, weil viele Leser Röhre hören, andererseits wegen der faszinierenden Hintergründe, wegen der großen Erfinder und Entdecker, deren Namen mit der Elektronenröhre und ihren Varianten untrennbar verbunden sind. Mal ehrlich: wer weiß denn noch, welche Persönlichkeiten dahinter stehen? Ich habe unlängst diesbezüglich recherchiert und möchte Ihnen die Ergebnisse nicht vorenthalten:

Die Elektronenröhre wurde von dem englischen Physiker Sir John Ambrose Fleming (29.11.1849 – 18.4.1945) entwickelt und im Jahre 1902 vorgestellt.

Nun gab und gibt es Röhren nicht nur in der Audiotechnik: Selbst gegen zunehmende Konkurrenz der LCD- und Plasmabildschirme behauptet sich die von Karl Ferdinand Braun (geb. in Fulda am 6.6.1850, gest. in New York am 20.4.1918) erfundene Kathodenstrahlröhre nach wie vor erfolgreich. Braun erhielt für seine Arbeit 1909 gemeinsam mit Guglielmo Marchese Marconi (25.4.1874 – 20.7.1937, Erfinder der drahtlosen Telegraphie, wo ebenfalls Röhren gebraucht wurden) den Physik-Nobelpreis.

Dass man die Kathodenstrahlröhre für die Bildwiedergabe verwenden kann, verdanken wir dem bedeutenden, leider jedoch weitgehend vergessenen russischen Entwickler Wladimir Kosma Zworkyn (geb. am 30.7.1889 in Murom bei Moskau, ab 1919 in den USA tätig), dem Erfinder der vollelektronischen Aufnahmeröhre für das Fernsehen – er nannte seine Erfindung, die er anno 1924 (!) machte, »Ikonoskop«.

Zworkyns Forschungen eben ermöglichten später die Anwendung der Braunschen Röhre für Bildwiedergabe bei Fernsehempfang. Wenn wir heute vor der – meist bildröhrenbestückten – »Glotze« sitzen, sollten wir ab und zu auch an den deutschen Ingenieur Paul Nipkow (22.8.1860 – 24.8.1940) denken, dessen Erfindung der Spirallochscheibe (1884) die Grundlagen für die notwendige Bildzerlegung in Zeiteinheiten schuf.

Sie sehen: Die Röhre repräsentiert greifbare Geschichte. Wo und in welchen Varietäten auch immer sie Verwendung findet: Stets ist sie mit großen Namen verbunden, mit Menschen, deren Ideen, Visionen und Schaffenskraft uns zu der Audio-, Video- und Kommunikationstechnologie verholfen haben, ohne die das heutige Leben kaum noch denkbar wäre.

Wenn Sie im Hörerlebnis Aufsätze über röhrenbestückte Geräte finden, betrachten Sie diese bitte nicht ausschließlich als »Testberichte«, sondern vielmehr auch als Hommage an die großen Erfinder und Entwickler.

(von Winfried Dunkel, © 2007 Hörerlebnis Nr 44)

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen.Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

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